Buchcover "Silvio Gesell in der Münchner Räterepublik" von Werner Onken. Grafik: www.werner-onken.de

Was Silvio Gesell uns heute noch zu sagen hat

Im Frühjahr 1919 war der Kaufmann und Sozialreformer Silvio Gesell, dessen Natürliche Wirtschaftsordnung eine Geld- und Bodenreform basierend auf Freigeld, Freiland und Festwährung einforderte, für kurze Zeit Finanz-Volksbeauftragter der Münchner Räterepublik. Die in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte, aber als „Gelehrten“- und „Dichterrepublik“ in die Geschichte einging. Was waren damals Silvio Gesells sozialreformerische Anliegen? Damit setzt sich Dipl.Ök. Werner Onken im 2019 erschienenen Buch „Silvio Gesell in der Münchner Räterepublik“ auseinander und zeigt die anhaltende Aktualität von Gesells Lösungsansätzen auf.

Mit der 110 Seiten umfassenden detaillierten Schilderung der Vorgänge in München 1919, der Akteure der Räterepublik, Gesells Amtszeit von 7. -14. April 1919 bis zur Niederschlagung mit blutigem Ende, Gesells Freispruch vor Gericht und der Räterepublik im Spiegel der Geschichtsschreibung spannt Werner Onken einen spannenden Bogen über 1929 bis zur Weltfinanzkrise 2008 und zur Phase negativer Leitzinsen heute.

Buchcover "Silvio Gesell in der Münchner Räterepublik" von Werner Onken. Grafik: www.werner-onken.de
Buchcover “Silvio Gesell in der Münchner Räterepublik” von Werner Onken. Grafik: www.werner-onken.de

Sie waren Künstler, Literaten, libertär-pazifistische Visionäre – jene Männer, die nach Ausrufung der Bayerischen Räterepublik die neue Regierung bildeten – darunter  Ernst Toller, Erich Mühsam und Gustav Landauer. Die „Dichter-Republik“ mit fortschrittlichen Ideen etwa fürs Bildungssystem war das Gegenmodell zum bürgerlichen Parlamentarismus.

Nach Abdankung des Kaisers wurden im November 1918 von der SPD die parlamentarische „deutsche Republik“ und von der KPD eine „sozialistische Republik“ ausgerufen und nach den Wahlen im Jänner 1919 bildete sich eine Koalition aus SPD, katholischem Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei. In Bayern rief nach der Abdankung des Königs im November 1918 der Literat und Theaterkritiker Kurt Eisner den „Freien Volksstaat Bayern“ aus und die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte wählten ihn zum vorläufigen Ministerpräsidenten. Bei den Wahlen im Jänner 1919 bekam seine Partei aber nur 2,5 % der Stimmen. Eisner wollte zurücktreten, fiel aber am Weg zum Landtag einem politischen Attentat zum Opfer.

Während auf der einen Seite sich die Verfechter der parlamentarischen Demokratie ohne Mitwirkung von Räten im bayerischen Landtag durchsetzten, wurde in München nach dem Vorbild von Räterepubliken in Bremen und Ungarn am 7. April 1919 die Bayerische Räterepublik ausgerufen, deren Territorium sich allerdings auf München und dessen Umgebung bis nach Rosenheim erstreckte. Die gewählte Regierung zog sich nach Bamberg zurück und bekämpfte  die Münchner Konkurrenz mit den paramilitärischen Freikorps der „Weißgardisten“, die von der Reichswehr unterstützt wurden.

Die Regierung, der Gesell angehörte, wurde nach nur einer Woche Amtszeit durch einen Putsch der Weißgardisten am 13. April abgesetzt. Da in München aber die revolutionäre „Rote Armee“ noch ein Übergewicht hatte, wurde eine zweite, diesmal kommunistische Räterepublik ausgerufen. Angesichts der auf München zumarschierenden Truppen sprachen sich die Akteure für eine Kapitulation aus – allerdings vergeblich, die Münchner Räterepublik wurde in blutigen Kämpfen mit mehr als 600 Todesopfern niedergeschlagen.

Silvio Gesell schlug als Beauftragter für das Finanzwesen vor, Geldscheine durch eine jährliche Wertminderung von 5-6 % auf eine Stufe mit der menschlichen Arbeit und ihrer Produkte zu stellen. Die Geldscheine sollten dazu in regelmäßigen Abständen mit gebührenpflichtigen Marken beklebt werden. Durch Abschaffung des Zinsvorteils sollte der Marktzins sich dann bei null einpendeln und die Ersparnisse auf dezentrale Weise in bedarfsgerechte Investitionen leiten. Das würde die Kaufkraft der Währungen und die Konjunktur stabilisieren. „Die strukturelle Macht des Geldes sollte also nach Gesells Vorstellungen überwunden werden, ohne auch nur einem einzigen Geldbesitzer ein persönliches Leid zuzufügen. Die Geldreform richtete sich nicht gegen Personen und bezweckte einzig und allein eine gerechte Ordnung der Institutionen des Geldwesens“, folgert Werner Onken.

„Ergänzt werden sollte diese Geldreform durch eine Reform des Bodenrechts mit dem Ziel, den Boden und die Ressourcen sukzessive gegen Entschädigung ihrer bisherigen privaten Eigentümer in öffentliches Eigentum zu überführen“, schildert Onken weiter Gesells Vorschlag. Die öffentliche Hand sollte dann die Bodennutzung planen und private Nutzungsrechte gegen Entgelt vergeben. „Gesell befürwortete zunächst eine Rückverteilung der Boden und Ressourcen-Renten in gleichen Pro-Kopf-Beträgen an die (Welt-)Bevölkerung und schlug später vor, sie als Gehalt für Hausarbeit und Kindererziehung zu verwenden“, so Onken. Gesell forderte unabhängig von Herkunft, Religion oder Hautfarbe ein „gleiches Menschenrecht auf den Boden und die Ressourcen“, da jede Einschränkung dieses „Urrechtes“ Gewalt und Krieg bedeute.

Gesell wollte im Zusammenleben der Menschen leistungslose Einkommen aus Zins und Bodenrenten abschaffen, damit arbeitende Menschen „ihren ausbeutungsfreien vollen Arbeitsertrag“ erhalten und damit in Lage kommen, eigene Produktionsmittel zu erwerben sowie sich an Genossenschaften zu beteiligen und sich damit aus der Lohnabhängigkeit befreien und zu wirtschaftlich selbständigen Bürgern werden können. „Damit hatte Gesell einen großen sozialreformerischen Traum, den er in einer für einen Autodidakten beachtlichen Weise wissenschaftlich ausformulierte“, diagnostiziert Onken.

Der Autor geht auch auf die Vorschläge der Münchner Räterepublik zur Bewältigung der finanziellen Folgen des Ersten Weltkrieges ein. Diese sollten gerecht auf alle Bevölkerungsschichten verteilt werden. Am 12. April schlugen Gesell, Christen und Polenske eine „einmalig zu erhebende, große gestaffelte Vermögensabgabe“ vor. Diese sollte Vermögen ab 10.000 Mark betreffen. Alle Vermögen über 300.000 Mark sollten konfisziert werden. Da diese Abgabe nicht in liquiden Mitteln erfolgen konnte, wollte man Vermögende mit Hypotheken belasten, deren Abzahlung an erste Stelle vor alle anderen Verbindlichkeiten gereiht werden sollte. Die Einnahmen dieser Vermögenssteuer sollten für drängende sozialpolitische Zwecke verwendet werden – für Alte, vermindert Arbeitsfähige, Kriegsversehrte, Witwen und Waisen.

Diese einmalige Vermögensabgabe wurde als Voraussetzung für einen Neubeginn gesehen. Dafür, dass nach einem solchen Neubeginn nicht bloß das alte Spiel der Polarisierung von Reichtum und Armut, Vermögen und Schulden wieder aufgenommen wird, sollte Gesells Geld- und Bodenreform sorgen. Die Wirtschaft sollte in Bahnen einer von privaten Machtgebilden wie Mono- und Oligopolen befreiten Marktwirtschaft mit breit gestreutem Produktionsmitteleigentum in privaten, genossenschaftlichen und anderen Rechtsformen und in vorwiegend kleineren und mittleren Unternehmensgrößen weiterentwickelt werden.

Doch dazu kam es nicht. Das Ende der „Novemberrevolution“ bedeutete eine Weichenstellung in Richtung der parlamentarischen Demokratie, „ohne dass für sie ein stabiles wirtschaftliches Fundament geschaffen worden wäre“, so Onken. Der „Treibsand, auf dem die erste deutsche Demokratie errichtet wurde, erwies sich zugleich als Nährboden, auf dem ihre ärgsten Feinde in der völkisch-rassistischen Münchener Thule-Gesellschaft und in der am 5.1.1919 gegründeten Deutschen Arbeiterpartei  gedeihen konnten“. In dieser waren schon spätere hohe NS-Funktionäre aktiv und im Juli 1919, als Gesell München schon wieder verlassen hatte, hielt Gottfried Feder dort einen seiner Vorträge über die „Brechung der Zinsknechtschaft“, der für Adolf Hitler zum Schlüsselerlebnis wurde. Onken hält fest, dass Feders „Aversion gegen die bestehende kapitalistische Geld- und Zinswirtschaft nicht einer näheren Kenntniss von Gesells Geld- und Bodenreform und schon gar nicht aus einem tieferen Verständnis für die von Personen ganz unabhängige strukturelle Macht des Geldes, sondern aus seiner Vorprägung aus antisemitischen Schriften der beiden Wiener Geld- und Zinskritiker Wenzel Schober und Josef Schlesinger“ entsprang.

„Feders Hetze gegen die `teuflische Erfindung des Großleihkapitals´ wurde für den seinem Vortrag zuhörenden Adolf Hitler zum Schlüsselerlebnis“, schreibt Onken und schildert auch den verhängnisvollen weiteren Verlauf der Geschichte.   Hitler trat der DAP im Herbst 1919 bei und gelangte durch seine agitatorische Begabung und Propaganda gegen die Weimarer Demokratie an die Spitze der Bewegung, die im Februar 1920 in die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP“ umbenannt wurde und zunächst auf die Stadt München beschränkt war. Gottfried Feder veröffentlichte im Herbst 1920 einen Aufsatz über die „Irrlehre des Freigelds“ und grenzte sich mehrere Male scharf von Gesell ab, den er als „den gefährlichsten dieser … falschen Propheten und Schwarmgeister“ bezeichnete.

Den Anstoß dazu, Gesells Wirken in der Münchner Räterepublik anhand von historischer Quellen zu recherchieren und in Buchform zu veröffentlichen, bekam Werner Onken vom historischen Roman des Germanisten und Politologen Volker Weidermann „Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“, der auf den geschichtlichen Ereignissen basiert. Im Nachwort zum Roman erinnert Weidermann auch an das erfolgreich verlaufene Wörgler Freigeld-Experiment sowie an den Geldtheoretiker Prof. Irving Fisher, der während der Großen Weltwirtschaftskrise solche lokalen Experimente mit sogenannten „Stamp scrips“ in den USA unterstützte.

Onken schildert, wie Gesells Theorie den Schriftsteller Michael Ende (Märchenroman MOMO) beeinflusste und schließt sein Buch mit einem Sprung in die Gegenwart – zu Regionalwährungen und gegenwärtiger Negativzinspolitik, wobei diese aber „nocht nicht dem eigentlichen Kern der Geldreform“ Gesells entspreche. Zudem würden die Entwicklungen auf den Immobilienmärkten zeigen, wie „unerlässlich eine begleitende Reform des Boden- und Ressourcenrechtes ist“, schließt Onken. Gesell´s Geld- und Bodenreform könne auch „nur ein zentraler Baustein“ sein, zu dem esnoch viele ergänzende Reformen der Unternehmensverfassung, des Haftungs-, Patent- und Markenrechtes sowie des Steuer und Umweltrechtes brauche. Onken plädiert angesichts anhaltender sozialer und ökologischer Krisen dafür, dass sich Wissenschaft, Politik und Zivilbevölkerung „konstruktiv-kritisch mit Gesells Geld- und Bodenreform auseinandersetzen und sich für ihre praktische Umsetzung einsetzen sollten, bevor die ungelösten Probleme nochmals zum Nährboden für rechtsextremistische Scheinlösungen werden und katastrophale Folgen nach sich ziehen.“

Buchautor Dipl.Ök. Werner Onken. Foto: Veronika Spielbichler
Buchautor Dipl.Ök. Werner Onken. Foto: Veronika Spielbichler

Zum Autor:

Diplom-Ökonom Werner Onken, Jahrgang 1953, studierte nach dem Zivildienst Wirtschaftswissenschaften an der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg. Seit 1982 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der „Stiftung für Reform der der Geld-und Bodenordnung“ tätig und verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift für Sozialökonomie, die im Juni 2019 letztmalig als Print-Ausgabe erschienen ist. Nach 200 Ausgaben in 56 Jahren wird das Magazin, herausgegeben von der Stiftung sowie von der Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft, auf ein Online-Format umgestellt, abrufbar auf www.sozialoekonomie-online.de

Cover der Zeitschrift für Sozialökonomie Juni 2019 - letzte Printausgabe. Grafik: Sozialwissenschaftliche Gesellschaft 1950 e.V.
Cover der Zeitschrift für Sozialökonomie Juni 2019 – letzte Printausgabe. Grafik: Sozialwissenschaftliche Gesellschaft 1950 e.V.

Werner Onken zeichnet weiters verantwortlich für die Sondersammlung „Archiv für Geld- und Bodenreform“ in der Bibliothek der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg und als Mitorganisator der Tagungsreihe Mündener Gespräche, die es seit 1986 gibt, sowie für die Ringvorlesung bzw. Vortragsreiche zur „Postwachstumsökonomie“ in Oldenburg von 2008-2018.

Weiterführende Links:

www.werner-onken.de

www.silvio-gesell.de

www.sozialoekonomie.info/Archive/archive.html (Archiv für Geld- und Bodenreform)

www.sozialoekonomie-online.de

www.dieter-suhr.info