Der Allesfresser

Der Allesfresser
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IllustratorIn: Suhrkamp Verlag
Veröffentlicht: 2023

Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern eine Gesellschaftsform. Als solche ist er darauf angewiesen, sich auch nichtökonomische Ressourcen einzuverleiben und so langfristig seine eigenen Grundlagen zu zerstören. Wie der Ouroboros, die Schlange, die ihren eigenen Schwanz verspeist, verschlingt er natürliche Rohstoffe und unbezahlte Betreuungsarbeit. Er enteignet rassifizierte Gruppen und unterminiert die Macht demokratischer Institutionen, auf deren Funktionieren er eigentlich angewiesen ist. Damit erweist er sich als Motor hinter den diversen Krisenphänomenen, mit denen wir heute konfrontiert sind.
In ihrem lang erwarteten neuen Buch zeichnet Nancy Fraser die historische Entwicklung des kapitalistischen Allesfressers über mehrere Epochen hinweg nach. Indem sie den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Krisen analysiert, zeigt sie zugleich auf, wie ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Klimawandel, Rassismus, Pflegekrise und demokratische Regression als Symptome desselben Problems zu begreifen weist den Weg zu neuen und starken gegenhegemonialen Allianzen. (Klappentext)

Zeit Online
Eine Rezension von

Es stimmt etwas nicht mit der Welt – und zwar alles. In so ziemlich allen Bereichen läuft so ziemlich alles schief. Dass das so sei und dass der Kapitalismus etwas damit zu tun habe, gilt vielen weithin als gesichert. Auf welche Weise genau er das verbindende Element diverser Krisen darstellt, möchte Nancy Fraser in ihrem neuen Buch Der Allesfresser – Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt darstellen.
Der Kapitalismus ist für die Philosophin, die an der New Yorker New School unterrichtet, ein dynamisches Phänomen, das allein im stetigen Verschleißen, Verbrauchen und Verbrennen nicht regenerierbarer Ressourcen seine relative Stabilität findet. Seine glühenden Berührungsflächen mit anderen, scheinbar nicht primär kapitalistischen Konflikten führen ihm Energie zu.

Fraser beschreibt vier solche Konflikte. Erstens ist der Kapitalismus mit Rassismus verzahnt. Während Ausbeutungsprozesse weitgehend innerhalb der rechtlichen Regeln von Staaten ablaufen, findet daneben und davon getrennt auch nackt illegale, mörderische Aneignung von Ressourcen, Kräften, Leibern statt – beispielsweise durch Kolonisation oder Sklavenarbeit. Die Ausbeutung wird durch die Aneignung gespeist und befördert. Die Linie zwischen den “nur” Ausgebeuteten und Beraubten, physisch Vernutzten ist eine rassifizierte. Sie wird in verschiedenen Regionen und verschiedenen Phasen der Weltgeschichte unterschiedlich scharf und mit unterschiedlich tödlichen Konsequenzen gezogen.
Zweitens nährt sich der Kapitalismus von Care-Arbeit. Er ist für sein Fortbestehen auf die sich außerhalb seiner Wertschöpfungskreisläufe vollziehende soziale Reproduktion wie Kindererziehung und Pflege angewiesen, die er selbst aber beständig unter Druck setzt – etwa durch sinkende Reallöhne oder Vereinnahmung von immer mehr Lebenszeit für die Lohnarbeit. Care-Arbeit ist sexistisch als “Frauensache” markiert, und die ökonomische Verwertung dieses Unterschieds macht echte Emanzipation innerhalb des Kapitalismus unmöglich.

Umwertung aller Werte

Drittens verfeuert der Kapitalismus die begrenzten ökologischen Ressourcen des Systems Erde, weil seine Eigenlogik ihn zwingt, diese Ressourcen als Teil eines außerwirtschaftlichen Bereichs zu definieren und sie sich einzuverleiben. Denn wer im Wettbewerb die ökologischen Ressourcen irreversibel ausbeutet, wird immer einen Vorteil gegenüber denen haben, die darauf verzichten.

Viertens verschleißt der Kapitalismus die immateriellen Ressourcen der Demokratie: Er ist auf eine legitime staatliche Ordnung angewiesen, unterminiert sie aber notwendigerweise, da er in der ökonomischen Sphäre nur die Kräfte “des Marktes” gelten lässt, was die Fähigkeit der politischen Sphäre zur Entscheidungsfindung einschränkt. Letztlich führt diese Dynamik dazu, dass sich die politische Macht von den Staaten zu unzureichend legitimierten supranationalen, faktisch vom Kapital kontrollierten Institutionen verschiebt. Die spätestens mit Trump und dem Brexit-Referendum 2016 dramatisch gewordene Krise der Demokratie sieht Fraser als eine Auswirkung davon.

Diese vier Vernichtungsdynamiken bedingen und ermöglichen sich wechselseitig. Durch ständigen Tausch ihrer Plätze und Prioritäten, durch steten Neuzuschnitt ihrer Zentren und Peripherien, durch permanentes Auffüllen der Defizite an einer Vernichtungsfront durch die zeitweiligen Erträge einer anderen erhält sich das Gesamtsystem.

Die gegenwärtigen Probleme der Menschheit lassen sich für Fraser nur durch eine Überwindung des Kapitalismus lösen, die mehr als nur die Vergesellschaftung der Produktionsmittel bedeutet, sondern auch eine egalitäre, letztlich herrschaftsfreie Demokratie erfordert. Der Frasersche Sozialismus muss alle Werte umwerten und Güter wie die zwischenmenschliche Fürsorge und den Reichtum der natürlichen Welt in ein höheres Recht gegenüber bloßen ökonomischen Verrechnungsgrößen einsetzen. Freie Märkte sind in dieser zukünftigen Gesellschaftsformation zwar nicht ausgeschlossen, aber auf die Mesoebene beschränkt. Politische Spitzenentscheidungen ganz oben und die Sicherung der individuellen Lebensgrundlagen ganz unten müssen dem Markt entzogen sein. In der Mitte ist höchstens ein Wettbewerb unterschiedlicher, etwa genossenschaftlicher Institutionen denkbar.