“Michael Unterguggenberger war ein Rebell im Herzen. Aber mit dem Kopf und dem Verstand ein Realpolitiker”, sagt der Historiker und Buchautor Dr. Wolgang Broer in einem Interview, das Juliane Nagiller vom ORF mit ihm der für die Sendereihe Oe1Radiokolleg im Juli 2018 geführt hat.
Der Radiosender Oe1 des österreichischen Rundfunks strahlte von 16.-19. Juli 2018 eine sehr informative Radiokolleg-Reihe über Silvio Gesell und die Freiwirtschaftslehre aus, deren erster Teil sich dem „Wunder von Wörgl“ durch die Ausgabe von Freigeld durch die Gemeinde Wörgl unter Bürgermeister Michael Unterguggenberger widmete. Juliane Nagiller interviewte dazu den Buchautor und Historiker Dr. Wolfgang Broer, Verfasser des Buches „Schwundgeld – Bürgermeister Michael Unterguggenberger und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33“.
Wie würden Sie Michael Unterguggenberger beschreiben? Welche Eigenschaften zeichneten ihn aus? War er ein Rebell oder ein Realpolitiker?
Nach den Worten seiner heute in Graz lebenden Tochter Lia Rigler war Michael Unterguggenberger ein Mensch, der die Menschen und das Leben liebte. Er war umgänglich, gesellig- er war in 18 Vereinen und Vereinigungen seiner Heimatgemeinde aktiv- er war unkompliziert und wohl auch nicht sehr eitel. Er war tatkräftig und entschlossen, er hatte viele Vorzüge und Stärken und hatte wie jeder Mensch wohl auch seine Schwächen und Fehler. War er ein Rebell oder ein Realpolitiker? Ich denke er war beides. Er war ein Rebell im Herzen. Aber mit dem Kopf und dem Verstand war Unterguggenberger ein Realpolitiker, weil er sehr genau wusste, dass Kompromisse nicht bloß faul, sondern notwendig sind und dass ein Zugeständnis einen viel weiterbringen kann als stures Beharren.
Wie stieß Unterguggenberger auf die Ideen von Silvio Gesell?
Nach seinen eigenen Worten ist er während des Ersten Weltkrieges, nämlich im Jahre 1916 an der Dolomitenfront, in einer Zeitschrift namens „Der Pyhsiokrat“, die ihm irgendwie in die Hände gefallen ist, auf die Ideen Gesells gestoßen und hat da in Auszügen das Werk Gesells „Die neuere Lehre vom Geld und Zins“ gelesen. Unterguggenberger war wie zuvor in seinem Zivilberuf auch im Krieg als Lokomotivführer tätig und hat da offenkundig Zeit für das Studium der Schriften gefunden.
Wie kam Unterguggenberger an die Macht?
Das ist eine ziemlich kuriose Geschichte. Bei den Gemeinderatswahlen 1931 hatten der sogenannte Bürgerblock und die Sozialdemokraten gleich viele Mandate erobert. Um das politische Patt zu überwinden, einigen sich die Fraktionen darauf, dass der Bürgermeister per Losentscheid gefunden werden soll. Das Los fällt auf Unterguggenberger, der sich später daher manchmal, durchaus selbstironisch, als „Zufallsbürgermeister“ bezeichnen wird. Hätte das Los anders entschieden, hätte es mit Sicherheit nie ein Wörgler Schwundgeldexperiment gegeben.
Mit welcher wirtschaftlichen Situation war die Gemeinde Wörgl konfrontiert als Unterguggenberger Bürgermeister wurde?
Mit einem Wort gesagt – katastrophal. In Wörgl haben 1931/1932 die Zellulosefabrik zusperren müssen, ebenso die Brauerei Zipf, in den Nachbarorten Häring und Kirchbichl sind die Zementfabriken, in denen viele Wörgler Arbeit hatten, stillgelegt worden. In der 4000-Seelen-Gemeinde gibt es fast 400 Arbeitslose. Bei der Innsbrucker Sparkasse steht Wörgl mit unvorstellbaren 1,3 Millionen Schilling in der Kreide. Die Steuerrückstände wachsen von Jahr zu Jahr und belaufen sich Ende 1931 auf 120.000 Schilling.
Wie schaffte er es den Gemeinderat und auch die BürgerInnen von Wörgl von seiner Idee zu überzeugen?
Das ist für mich, der ich mich drei Jahre mit dem Thema intensiv beschäftigt habe, das wahre „Wunder von Wörgl“, wie damals in der Presse das Experiment bezeichnet wurde. Nicht das, was ökonomisch erreicht wurde – obwohl beeindruckend genug – ist für mich das Wunderbare, sondern wie es Unterguggenberger geschafft hat in einem Klima, wo sich die großen politischen Kräfte in Österreich zum Bürgerkrieg rüsten – der dann im Februar 1934 ja tatsächlich ausbricht – in seiner Gemeinde alle Parteien zu einen, das ist ein Wunder. Und wie alle Wunder letztlich nicht erklärlich.
Wie funktionierte das Schwundgeld von Wörgl? Wurde es von den Arbeitern sowie den Geschäftsleuten angenommen?
Es funktionierte von Anfang an hervorragend. Alle, einschließlich Unterguggenberger, waren davon überrascht. Die Arbeiter, die bei den Notstandsarbeiten eingesetzt waren, erhielten ihren Gehalt zu 100 Prozent in Arbeitswertbestätigungen und waren froh, dass sie wieder Beschäftigung gefunden hatten. Die Geschäftsleute – anfangs nur vier – erklärten sich nach und nach bereit, die Arbeitswertbestätigungen anzunehmen. Mit denen haben sie hauptsächlich ihre Steuerrückstände beglichen.
Wie wurde das Experiment von Wörgl von zeitgenössischen Tageszeitungen und Magazinen rezipiert?
Überwiegend positiv, zum Teil geradezu überschwänglich, und teilweise auch übertreibend bis zur Peinlichkeit, man bezeichnet Unterguggenberger etwa als Zauberer und Teufelskerl, die Zeitung „Der Wiener Tag“ schreibt gar, das Wörgler Experiment habe Weltgeltung erlangt. Es gibt eine einzige, relativ nüchterne, und wirklich seriöse ökonomische Analyse und zwar in der Wochenzeitung „Der österreichische Volkswirt“, ein Blatt, das aber nur von wenigen gelesen wird.
Warum wurde das Experiment aus Ihrer Sicht unterbunden? Politische Motive oder geldpolitische Bedenken?
Es waren sicherlich auch geldpolitische Bedenken. Immerhin haben schon oder wollen an die 200 österreichische Gemeinden im Jahr 1933 dem Wörgler Beispiel folgen. Damit ist das gesetzlich verankerte Monopol der Notenbank, nämlich als einzige Institution Banknoten ausgeben zu dürfen, in Gefahr. Es dürften aber hauptsächlich politische Motive für das Verbot ausschlaggebend gewesen sein. Immerhin ist ja in diesem Jahr nach der Selbstausschaltung des Parlamentes die Regierung Dollfuß gerade dabei, den autoritären Ständestaat zu errichten und der wird streng zentralistisch und nach dem Führerprinzip organisiert. Da ist kein Platz für Eigenständigkeit oder Abweichler. Im September drohen daher die Behörden in Innsbruck und Wien sogar mit dem Einsatz von Polizei, um dem – wie sie es nennen – „Währungsspuk“ in Wörgl ein Ende zu bereiten.
Wie würden Sie das Experiment bewerten? War es nicht vielmehr eine regionale Parallelwährung als ein neues Währungssystem?
Es war eindeutig eine regionale Parallelwährung, denn während des ganzen Experimentes zirkulierte in Wörgl auch immer gleichberechtigt der Schilling. Unterguggenberger hat das auch genauso konzipiert und vorgesehen – was übrigens Silvio Gesell, der Erfinder des Freigeldes, nie und nimmer gut geheißen hätte. Der wollte Freigeld von einer staatlichen Notenbank in einem ganzen Staatsgebiet ausgegeben wissen.
Was kann aus dem Experiment von Wörgl für heute gelernt werden?
Für alle basisdemokratischen, gesellschaftlichen oder ökologischen Graswurzelbewegungen ist das Wörgler Beispiel ermutigend. Denn, um Erasmus von Rotterdam zu zitieren: „Was einmal war, ist künftig immer möglich.“ Wörgl hat gezeigt, dass der Ohnmacht des Einzelnen als Komplimentär die Stärke eines einigen Wir gegenüber steht, das viel mehr bewegen kann als man denkt.
Das heißt: Es ist nicht wahr, dass man gegen anscheinend übermächtige Sachzwänge nicht aufbegehren kann, sie einfach hinnehmen muss. Es ist immer möglich etwas Neues zu versuchen, einen Ausweg abseits der eingefahrenen Geleise zu suchen, es ist nicht wahr, dass wir in einer ungerechten, verrückten und verkehrten Welt, in der so vieles falsch läuft, nur die Hände in den Schoß legen kann und erdulden müssen, was ist. Der Einzelne ist schwach, aber gemeinsam ist man stark, viel stärker als gedacht. Ein einiges Wir kann anscheinend Unveränderbares verändern, anscheinend Unbewegliches bewegen.
Textabdruck mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
Buchtipp:
Schwundgeld – Bürgermeister Michael Unterguggenberger
und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33
Dieses Buch stellt das Wörgler Experiment erstmals umfassend in das damalige politische und soziale Koordinatensystem und führt ganz nah an die Menschen und Probleme dieser Zeit heran.
Broers über drei Jahre lang international wie auch in Wörgler Archiven recherchiertes Buch ist eine spannend erzählte, wissenschaftlich basierte Aufarbeitung des Wörgler Freigeld-Experimentes und wird vom Unterguggenberger Institut als Standard-Literatur sehr empfohlen! Das Buch ist beim Studienverlag sowie im Buchhandel erhältlich.
Der Autor Dr. Wolfgang Broer ist Historiker und Publizist, war u.a. langjähriger Redakteur der Tageszeitung “Der Kurier” und Chefredakteur des a3-Wirtschaftsverlages.
Erstauflage 2007, überarbeitete Neuauflage 2013.
Das Buch ist u.a. in der Buchhandlung Zangerl in Wörgl erhältlich. Bestellung per Email: order@studienverlag.at
StudienVerlag, 398 Seiten, Euro 44,90 – ISBN 978-3-7065-4472-6